Erzählte Schichten
Die Studiobühne Erlangen zeigt Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein – Eine Theaterkritik von Vera Podskalsky.
Erinnerung – das ist letztendlich eine Collage aus realen und fiktiven Elementen. Am deutlichsten wird das in fiktionalen Texten, die sich auf historische Vorlagen beziehen, sich also erzählend erinnern. Etwa in Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein. Die Studiobühne Erlangen setzt in ihrer Inszenierung des Romans, der die Geschichte der Widerstandskämpfer Otto und Elise Hampel zur Grundlage hat, genau an dieser Schnittstelle zwischen tatsächlicher historischer Begebenheit und Erzählung an und fordert zur Reflexion über Wahrheit auf – in einer Collage auf verschiedenen Ebenen.
Die „wahre Geschichte“?
So überschneiden sich bereits Erzähler– und Figurenposition. Acht Schauspieler erzählen abwechselnd die Geschichte des Ehepaars, das in der Zeit des Nationalsozialismus Postkarten regimekritischen Inhalts verteilte, und schlüpfen dabei in verschiedene Rollen. Der Zuschauer hat teil an einem Spiel im Spiel, alle Figuren verkünden zu Beginn, die „wahre Geschichte“ erzählen zu wollen. Von dieser existieren allerdings verschiedene Versionen, dem Zuschauer werden auf Grundlage der Differenzen zwischen Romangeschichte und historischen Belegen verschiedene Möglichkeiten angeboten, nach Diskussionen unter den Schauspielern wird die Rückspultaste betätigt und eine veränderter Handlungsverlauf dargestellt. Metareflexion des Theaterspiels und Verfremdung also.
Das heißt allerdings nicht, dass Hineinversetzen ausgeschlossen werden soll. Im Gegenteil: innerhalb der einzelnen Szenen erscheinen die Schrecken des Nationalsozialismus aufgrund hoher schauspielerischer Leistung auf emotionaler Ebene und gleichzeitig nicht plakativ. Wenn beispielsweise der mit der Aufklärung des Falls betraute Gestapo-Kommissar Escherich den zu Unrecht beschuldigten Enno Kluge zum Selbstmord bringen möchte, um seine eigene Haut zu retten, werden Machtmechanismen autoritärer Systeme greifbar. An richtiger Stelle eingesetzte Effekte wie Sprechchöre, die das Unterbewusstsein des Kommissars wiedergeben, wirken zusätzlich unterstützend.
Emotionscollage
In einigen Szenen lebt eine gewisse Komik auf. So zum Beispiel, wenn die Schauspieler im „Leierstil“ Referate zum geschichtlichen Hintergrund halten. Hier wird die Handlung des Romans durchbrochen, durch Handouts und Overheadprojektor der Eindruck einer Schulstunde erweckt. Der Overheadprojektor dient innerhalb der Handlung als Verhörscheinwerfer und außerdem dazu, den Stadtplan Berlins an die Wand zu werfen, auf der Escherich die Verteilungsorte der Postkarten markiert .
Was in der Beschreibung bizarr klingt, ist in der Realisation nicht störend, sondern angebracht verfremdend. Timo Sestu glückt mit der Inszenierung eine Collage aus Roman und Drama, Trauer und Komik, traditionell dramatischen und theaterfremden Mitteln und vor allem verschiedenen Versionen ein– und derselben Geschichte.
Vera Podskalsky
http://www.reflexmagazin.de/2013/10/24/erzaehlte-schichten/