Eine Orgie der Selbstzerfleischung

 
 
 

Sprüh­sahne, ein Super­hel­den­kos­tüm und viel Kla­mauk. Unum­gäng­lich scheint die Frage: Was will uns der Autor von „Remain cheer­ful till the End“ nur damit sagen? Sie hätte am Mon­tag­abend nicht unbe­ant­wor­tet blei­ben müs­sen, denn David Becker führte im E-Werk das Stück auf, das auch sei­ner Feder ent­stammt. Gewinn­brin­gen­der wäre aller­dings eine Ant­wort auf die Frage: Was will uns das Stück selbst sagen? Was nimmt man mit aus kei­nen 60 Minu­ten Skur­ri­li­tät?

Zunächst beginnt alles glaub­haft apo­ka­lyp­tisch: Die Figu­ren betre­ten in Atem­schutz­mas­ken und Schutz­an­zü­gen die Bühne, ein Erzäh­ler (Regis­seur David Becker mit ange­neh­mer Stimme) führt in das Gesche­hen ein: Atom­krieg, der Wes­ten gegen die Bösen, aber was tut das zur Sache, sechs Freunde ret­ten sich in einen Bun­ker und wer­den zu Über­le­ben­den ohne Aus­sicht, der abge­schlos­se­nen Enge in abseh­ba­rer Zeit ent­kom­men zu kön­nen. Schnell gehen die Ner­ven mit ihnen durch, ein­ge­spielte Ver­hal­tens­mus­ter erwei­sen sich als unzu­läng­lich für die neue Situa­tion. Die Fas­sade des „alten“ Lebens brö­ckelt nicht, sie stürzt gewalt­sam in sich zusam­men. Wäh­rend die sechs Freunde unter der Erde aus­har­ren, treibt an die Ober­flä­che, was bereits zuvor gärte. Joseph (Alex­an­der Ess­wein) scheint ehr­lich bemüht, die Gruppe bei­sam­men zu hal­ten, aber unwil­lent­lich bringt gerade er den Mecha­nis­mus der Ent­frem­dung in Gang. Plötz­lich ist man­ches in jeg­li­cher Hin­sicht unter­ir­disch: Zum Bei­spiel das Ver­hal­ten des mensch­lich absto­ßen­den „Snob“ Ste­phan (glaub­haft ekel­haft ver­kör­pert von Michael Hör­ner), der mit Pauls Freun­din Fran­ziska (Nadine Rad­datz) eine Affäre hat. Selbst die Insze­nie­rung bleibt im Fol­gen­den bewusst trash-haft. Jede Szene kari­kiert und bricht sich selbst.

Ein beson­ders auf­fäl­li­ges Bei­spiel für diese Bre­chung: Als Paul (rou­ti­niert: Gabor Boz­sik) gerade Sara (Ame­lie Jakob) ver­ge­wal­tigt, lernt die quer­schnitts­ge­lähmte Lisa (Marie Kropf) in einer absurd-komischen Szene lau­fen. Wäh­rend die­ses Wun­der geschieht, das sich gleich­sam selbst par­odiert, sieht der Zuschauer in Saras Augen die nackte Angst geschrie­ben. Gleich­zei­tig ist das Büh­nen­ge­sche­hen so ver­stö­rend authen­tisch und doch so irre, dass es unsi­cher bleibt, wel­ches Genre hier eigent­lich bedient wird. Ist es eine tra­gi­sche Komö­die? Nein. Viel mehr eine komi­sche Tra­gö­die. Komisch im Sinne von selt­sam und komisch, weil es so selt­sam ist, dass es lus­tig wird. Am Ende bleibt das Gefühl, einer hef­ti­gen, apo­ka­lyp­ti­schen Orgie beige­wohnt zu haben. Irgendwo zwi­schen Selbst– und Fremd­zer­flei­schung, zwi­schen Kopf­schüt­teln und Lachen.

Aber worum ging es? Um geheime Wün­sche? Um Sex? Davon gab es immer­hin reich­lich. Oder ist es viel­leicht eine Ver­hal­tens­stu­die für den nuklea­ren Ernstfall?

Oder ging es darum, dass unser Ver­hal­ten einer gemach­ten Situa­tion ent­springt, um deren Gemacht­heit wir nicht wis­sen. Man fin­det nicht zu sich selbst in extre­men Situa­tio­nen – man wird mit der Situa­tion ein ande­rer Mensch. Sicht­bar wurde die­ser Deter­mi­nis­mus auch in den Erzäh­ler­ein­grif­fen. Immer wie­der for­derte er die Kon­trolle über das Büh­nen­ge­sche­hen ein, erzeugte absurde Situa­tio­nen und spielte mit den Figu­ren wie mit Mario­net­ten. Kein Wun­der, dass die­ses dra­ma­ti­sche Gedan­ken­ex­pe­ri­ment genauso schnell ver­wor­fen wurde, wie es begon­nen wurde. Es endete wie ein Spiel, bei dem man vor Ende die Steine vom Brett fegt, um viel­leicht neu zu begin­nen. Viel­leicht auch nicht. Wie einen Satz, den man been­det mit: „…, ist ja auch egal.“

Timo Sestu
http://www.reflexmagazin.de/2012/10/24/eine-orgie-der-selbstzerfleischung/